Teilhabe und Kritik als ästhetische Praxis in Theater und Schule

Von Kristin Westphal

In einer Vielzahl an Projekten entwickeln seit einigen Jahren Kunst- und Kulturschaffende im Bildungsbereich innovative Konzepte mit einem offenen transkulturellen, transdisziplinären und transgenerationalen Verständnis. So ermöglichen Künstler*innen Kindern und Jugendlichen an der Schnittstelle zwischen Kunst und der jeweiligen Institution Räume für ästhetische Erfahrungen, Austausch und Experimente und ermächtigen sie, sich als selbstbewusste Akteur*innen mit den Mitteln performativer Künste im öffentlichen Raum Gehör zu verschaffen (vgl. Liebert/Westphal 2015; Westphal 2015; Bilstein/Kneip 2020). Eröffnet werden andere Spielweisen und demokratische Modellierungen, die das Theater als generationenübergreifenden Verhandlungsraum erproben.

Unsere Forschungen1 zeigen, dass in der Begegnung von Theater und Schule zwei Logiken aufeinanderstoßen, die sich als ein Spannungsgefüge zwischen Kunst und Bildung bezeichnen lassen. Verfolgt werden soll von daher die Frage, worin in der Begegnung von Theater und Schule das kritische Potenzial liegt und worin sich das ästhetische, performative Forschen mit Kindern und Jugendlichen als Kritik zeigt.2

Auszugehen ist zunächst davon, dass Schule und Theater auf unterschiedliche Weise Orte der Kritik, der Krise sind, die sich in Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen artikulieren. Theater und Schule sind dabei jeweils als Erfahrungs- und Bildungsräume zu verstehen, die unterschiedlichen Ordnungen unterliegen und seit jeher in einem Spannungsverhältnis stehen (vgl. Westphal 2012; Lohfeld/Schittler 2016; Lohfeld 2019; Zimmermann et al. 2020). Es bringt das spannungsreiche Verhältnis von Körper und Raum/Institution, von Kunst und Bildung und ihrer Vermittlung in pädagogischen und kulturellen Kontexten selbst erst zur Sprache. Denn partizipativ bzw. performativ angelegte Praxen legen es darauf an, bestehende Ordnungen außer Kraft zu setzen und zu unterbrechen, um einen Spalt für andere Sichtweisen auf Welt- und Selbstverhältnisse für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu eröffnen. Bilden oder Lernen sind von daher nicht allein im Sinne einer bloßen Aneignung von Wissen als ein rein rationaler Vorgang zu verstehen. Die Besonderheit zeitgenössischer Verfahrensweisen besteht vielmehr in einer über das kognitive Verstehen hinaus entfalteten Sinnlichkeit, wodurch sie andere Reflexionsformen mit sich führen und uns zeigen, wie das Dargestellte in die sinnlich-leiblich gebundene Darstellung selbst eingehen kann. Werden zudem die Erfahrungswirklichkeiten von Kindern aufgegriffen, dann haben wir es auch weniger mit einer Vermittlungspraxis im Sinne einer klassischen Belehrung zu tun, als vielmehr mit einer performativen Praxis, in der die Lernenden im Mittelpunkt stehen und Produktion und Rezeption nicht mehr als geschiedene Vorgänge zu begreifen sind (Westphal 2018). Das bedeutet, Theater, Tanz und Performance zuallererst als einen sozialen und ästhetischen Raum zu sehen, in dem das Selbst als Anderer erfahren werden kann, in dem die Art, wie man miteinander kommuniziert, verhandelt wird, in dem die Normen unserer Kultur berührt und in Frage gestellt werden können. Ein Beispiel aus den Anfängen des Theatre of Research am Fundustheater soll diesen Ansatz verdeutlichen, in dem die schulische Ordnung von Zeit und Raum zum Gegenstand des Forschens mit Kindern gemacht wurde.

»Kinder testen Schule«

In der Schule gibt es viele Grenzen, die unsere Bewegungen steuern, räumliche Grenzen, zeitliche Grenzen und noch ganz andere. Meistens halten wir uns innerhalb dieser Grenzen auf. Doch heute wollen wir uns auf den Grenzen bewegen, um sie zu überschreiten und sichtbar zu machen. Wir sind unsere eigenen Bewegungsmelder.3

Mit diesen Worten wird ein Projekt mit Kindern am Fundustheater/Theatre of Research in Kooperation mit PROFUND e.V. eingeführt: »Kinder testen Schule«. An vier Hamburger Grundschulen werden verschiedene Testreihen mit den Mitteln des Theaters angestellt. Der Lehrertest: Hier wird ein Dummy als ein Roboter zum Lehrer gemacht, indem die Schüler*innen auf- und beschreiben, was ein Lehrer häufig sagt: »Pst! Psch! Seid leise! Lass das! Schlagt die Seite x im Buch auf!« Diese Sätze – es sind vornehmlich Befehlssätze – werden dem Dummy eingespeist, der sie mit einer Computerstimme wiedergibt.

Eine Maschine – zusammengebaut aus Saugknöpfen, Telefonkabeln und Duschköpfen – wird dafür eingesetzt, besondere Orte und Kräfte, die an der Schule vorherrschen, aufzusuchen. Gefragt werden die Schüler*innen nach Orten, wo sie sich besonders langweilen oder besonders froh sind. An Orten, an denen alle das gleiche Gefühl und die gleiche Stimmung empfinden, so die Annahme, müsse sich ein Geist befinden, wie von den Schüler*innen einer Grundschule auf dem Dachboden oder von einem Schüler vor einem Schuhregal ausgemacht. Getestet werden von den Schüler*innen im weiteren Verlauf solche Bewegungen, die verboten, unmöglich oder lächerlich sind. Schüler*innen bewegen sich an ihren Tischen sitzend und sammeln Material: auf dem Stuhl kippeln bis zum Umfallen, auf dem Tisch liegen, Füße auf den Tisch legen, andersherum auf dem Stuhl sitzen, essen. In Belastungstests wird getestet, ob die Gegenstände und Materialien aus der Schule das aushalten, wofür sie nicht gemacht wurden. Kann man ein Radiergummi als Golfball, einen Schüler als Bücherregal, einen Tisch als Trommel, mehrere Tische kombiniert für eine Inlineskating-Probe verwenden? Hält eine Tischtennisplatte es aus, wenn 15 Kinder auf ihr hüpfen? Die Ergebnisse dieser Testreihen werden im Fundustheater von einer Performerin und einem Performer wiederum theatral umgesetzt.

Die Zuschauer*innen, vornehmlich die Kinder der Grundschulen, die die Experimente selbst gemacht haben, fungieren dabei als Schiedsrichter*innen. Immer wenn eine*r der beiden Akteur*innen eine dieser verbotenen oder unmöglichen Bewegungen macht, soll auf einer Trillerpfeife gepfiffen werden. Die Kinder erhalten auf diese Weise nicht nur Einblicke in die Einfälle der anderen Klassen, sondern erfahren an dem öffentlichen Ort des Theaters, was sie selbst dazu beigetragen haben. Sibylle Peters äußert sich anlässlich des Projekts Schuluhr und Zeitmaschine zu diesem Prinzip in folgender Weise:

»Die Kinder finden ihre eigene Schule und Klasse und sich selbst als Teil des Geschehens auf der Bühne wieder. Das Publikum reagiert stark darauf, sich auf diese Weise als Teil der Öffentlichkeit zu erleben. Diese Erfahrung der Teilhabe korrespondiert auf einer inhaltlichen Ebene des Stücks. […] Es macht deutlich, dass wir alle an der Generierung und Organisation von Zeit beteiligt sind, dass Zeit also nicht etwas ist, was unserem Tun schon vorausgeht, sondern eher das Medium, in dem wir am öffentlichen Leben teilhaben.« (Fundustheater Peters 2016)

Der Videoausschnitt, dem die obige Beschreibung zum Raumprojekt entnommen ist, zeigt bei dem recherchierenden Erkundungsvorgang höchst vergnügte Schüler*innen einer Klasse 3b, die mit einem Riesenspaß, hoher Motivation und Aufmerksamkeit an diesem Unternehmen beteiligt sind: eine be- und entgrenzende Unterbrechung des Schulgeschehens, dem sie alltäglich ausgesetzt sind und davon bestimmt werden. Eine ausgelassene Stimmung also, dem Karneval zu vergleichen. Klar ist: Hier wird in der Schule mit den Mitteln des Theaters gespielt. Theater ermöglicht eine besondere Art des Verhaltens: Vorspielen und Zuschauen; sodann eine besondere Situation, hier eine Art der Versammlung. Hier wird die Ordnung des schulischen Raums in der Schule selbst zum Thema gemacht, Dinge und Räume werden entgegen ihrer alltäglichen Funktion für etwas Anderes genutzt. Theater als eine ästhetische Praxis wird dabei zugleich als eine potenziell kritische Praxis erfahren in dem Sinne, dass es in der Ausnahmesituation, in der Unterbrechung des Regelhaften die Regel zu sehen gibt, wie es unser Beispiel gezeigt hat (vgl. Lehmann 2011: 29 f.).

Das Besondere dieses Forschungstheaters, das unter der Leitung von Sibylle Peters ein fester Bestandteil des Fundustheaters geworden ist, besteht darin, dass bei all diesen Projekten die Erprobung durch die Schüler*innen und die szenische Darstellung durch die Performer*innen nicht als zwei voneinander geschiedene Vorgänge behandelt werden – wie es aus der klassischen Forschung oder Theaterarbeit bekannt ist –, sondern ineinandergreifen. Die Arbeit zielt so gesehen nicht in erster Linie auf ein von Erwachsenen gemachtes Werk ab, sondern rückt den Prozess der performativen Erforschung/Erkundung/Recherche mit den Kindern selbst in den Mittelpunkt. Beteiligt sind zwei Institutionen, die in diesem Projekt in ein Verhältnis treten und eine gegenseitige Wechselwirkung hervorzurufen suchen (vgl. Peters 2018).

Mit Jacques Rancière formuliert wird in diesem Projekt versucht, die etablierte und vorherrschende Politik der Ausschließung, wie sie aus dem klassischen Theater und dem schulischen Raum par excellence bekannt ist, aufzubrechen, »Stimmen hörbar zu machen, die ansonsten überhört werden und keine Resonanz finden« (Rancière 2007: 32), indem es hier die Stimmen der Kinder zu hören gibt. Diese Praxis zeigt sich immer in konkreten Formen, »über ihren jeweiligen Kontext und über ihre Art, im Prozess von Produktion und Rezeption Beziehungen (neu) zu organisieren« (vgl. Primavesi 2011: 56 f.). Sie ermöglicht Erfahrungen, die über die bekannten Erfahrungen hinausweisen, die Formen des Teilens von Wissen bedeuten und ein anderes Wissen generieren, das über standardisierte schulische Curricula und Schulbücher nicht zu erfahren wäre.

Maßstäbe für eine Kritik als ästhetische Praxis

Ging es zunächst um die Beschreibung und Auslegung einer ästhetischen Praxis als Kritik an einem Beispiel, stellen sich im Weiteren die Fragen, was eine ästhetische Praxis zu einer kritischen macht und welche Maßstäbe einer solchen zu Grunde liegt. Ist Theater und das Erforschen der Kinder ihrer Alltagswelt in unserem Falle per se schon kritisch? Vor dem Hintergrund (bildungs-)philosophischer Referenzen soll diesen Fragen nachgegangen werden und zum Schluss zu Forschungsfragen zum Forschen im Kinder- und Jugendtheater führen, wie sie uns in den letzten Jahren in der Forschungspraxis bewegt haben (WestphalAlthans/Dreyer/Hinz 2022).

Die gegenwärtigen Diskurse innerhalb der Philosophie zur Kritik der Kritik (Jaeggi 2009) und der Krisis der Wissenschaften und Künste (Mühleis 2016; Babias 2011) fragen danach, ob unser Zeitalter überhaupt noch als das Zeitalter der Kritik zu bezeichnen sei. Wie es beispielsweise Jean-Luc Nancy in einem Vortrag an der Goethe-Universität Frankfurt/Main 2016 skizziert, geht es um den expliziten Gebrauch von Kritik: Obwohl an die Bedeutung des »unterscheidenden Erkennens« in der Philosophie immer wieder erinnert und an ihr festgehalten wurde, werde diese Form des Erkennens immer deutlicher von einer Bewertung überdeckt. Die Bewertung selbst habe sich im Sinne der Verurteilung oder des Vorwurfs, der Anfechtung oder Zurückweisung verschoben. Dabei hat Nancy vornehmlich die Kritik an der Kunstkritik im Blick, um die Frage nach Kunst als Kritik zu öffnen. Mit Rückgriff auf die medizinische Lehre von Hippokrates betont er, dass das Kriterium selbst aus einer kritischen Operation, also einer Krise (Hippokrates), einer Abweichung von einer Norm beziehungsweise vom Gesunden, hervorgehen müsse (Nancy 2015: 2).

»Die gesamte Geschichte des Wortes ›Kritik‹ oszilliert von daher zwischen zwei äußersten Punkten: Bald überwiegt die kaum definierbare Finesse eines unterscheidenden Erkennens, eines Diszernierens, das nur zu erkennen vermag, was es erkennt, bald überwiegt die Sicherheit einer Unterscheidung, die sich auf einem Wissen oder einem Recht gegründet weiß.« (Nancy 2015: 6)

Nancy geht es hier um die grundlegende Frage nach den Maßstäben, die einer Kritik selbst unterliegen und diese bedingen. Diese sind selbst mehr oder weniger umkämpft aufgrund von Überschneidungen verschiedener Deutungen und Interessen verschiedener Zeichengemeinschaften – wie es Bernhard Waldenfels in seinen Überlegungen zu einer kritischen Haltung, die einer Alltagswelt entspringe, feststellt (vgl. Waldenfels 1994: 175). Gegenüber einem universalen, idealen (Husserl) und einem totalitären Kritikverständnis (Marx) sucht auch Waldenfels nach einem solchen Verständnis von Kritik, das nicht auf eine Norm oder ein Ziel zentriert bleibt, sondern sich an den Rändern der faktischen Alltagswelten aufhält, ohne einen idealen Fluchtpunkt zu suchen (Waldenfels 1994: 175).

»Die Ränder, das wäre das Ungesagte, das Nichtgetane und Nichttubare im Getanen, das Ungeregelte und Unvertraute im Geregelten und Vertrauten, das Unalltägliche im Alltäglichen. Die Ränder gehören dem bestimmten Deutungsfeld selbst zu; sie verkörpern keine andere Welt, sondern das andere der bestehenden Welt als das, was durch die jeweilige Deutungspraxis unweigerlich ausgeschlossen, zurückgedrängt oder gar verdrängt wird und doch als Möglichkeit fortexistiert, faßbar etwa in Wünschen, Ängsten und Phantasien. Das bedeutet kein Ersetzen der faktischen Welt durch eine andere Welt, eher ein Ent-setzen der bestehenden Welt, das ihre Untergründe und Hintergründe bloßlegt und sie nicht übersteigt, sondern durchlässig macht.« (Waldenfels 1994: 176)

In unserem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Grund von Kritik in dem Feld der ästhetischen Bildung – wie wir sie hier am Beispiel der performativen Recherche von Schulpraktiken im gelebten Raum der Schule festzumachen suchen.

Der Erziehungswissenschaftler Jörg Zirfas (2015: 21) behauptet, dass Kriterien und Maßstäbe einer kritischen ästhetischen Praxis nicht ein für alle Mal festgestellt werden könnten, sondern an einem Ort wie der Schule erst in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen oder Positionen immer wieder hervorgebracht werden müssten. Die ästhetische Bildung markiere auf diese Weise Grenzen der Zivilisierung oder Modernisierung, zwischen Individuellem und Sozialem, zwischen Deskriptivem und Normativem, Bedingungen und Effekten. Den Ort der Schule bezeichnet er von daher als Krisenort der Infragestellungen und Herausforderungen, in denen sich nichts von selbst verstehe und in denen alle Faktizitäten und Geltungsansprüche nach kritischer Auslegung und Umsetzung verlangen. Seine Argumentation zielt darauf ab, dass die ästhetische Bildung als ein kritisches Korrektiv von Formen und Prozessen der Gesellschaft und Politik fungiere. Seine Auslegungen enden in einer für unseren Zusammenhang wichtigen Aussage:

»Denn Kunst hat es von Hause aus mit Wahrnehmung, Ausdruck und Gestaltung und Darstellung, eben mit Sinnlichkeit zu tun. Es ist der Körper-Leib, der als eigentliche Arena ästhetischer Bildung gelten muss. Ästhetische Bildung ist dann nicht nur Kampf um den Geist, sondern vor allem Kampf um den Körper.« (Zirfas 2015: 25)

Zu fragen wäre zunächst, ob die ästhetische Bildung wirklich ein Korrektiv für ein besseres Leben sein kann, wie es Zirfas behauptet. Es drängt sich die Frage auf, ob dann nicht wiederum nur neue Normen erhoben und wirksam werden. Folgt man den letzten Thesen, gelangt man in der Konsequenz insofern zu einem anderen Verständnis einer kritischen ästhetischen Praxis, als dass diese weniger an einer von außen geleiteten Vernunft und von außen bestimmten Maßstäben orientiert ist, sondern aus der ästhetischen Praxis selbst hervorgeht. Denn kommt die Wahrnehmung, die Sinnlichkeit, der Körper, die Leiblichkeit, aber auch Wünsche, Ängste, Phantasien, wie es im Zitat von Waldenfels angesprochen wird, ins Spiel, haben wir es mit einer kritischen Praxis zu tun, die ihre Maßstäbe weniger aus einem moralischen Diskurs rekurriert. Vielmehr entsteht eine Praxis, die – »was die eigentliche Chance des ästhetischen Diskurses wäre – die schwankenden Voraussetzungen des eigenen Urteilens erfahren« lässt (Lehmann 2013: 622). Oder anders ausgedrückt: Ein Theater, das den Anspruch auf Selbstreflexion seiner eigenen Praxis beinhaltet, führt, mit Lehmann argumentiert, zu einem »Verblassen der Begriffe«. Statt sich in der Sicherheit des Urteilens zu wiegen, schlägt er vor, sich auf den schwankenden Boden seiner Wahrnehmung zu begeben und die Sicherheit darüber, was überhaupt ›Handeln‹ ist, zu befragen (vgl. ebd.). In dieser Sichtweise geht es folglich nicht allein um ein Was – also den Gegenstand einer Kritik –, sondern vielmehr um die Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen einer Hervorbringung von Theater, Bildung und Subjekt – also um das Wie. Eine ästhetische Praxis als eine kritische zu verstehen, bedeutet dann mit Lehmann argumentiert:

»… nicht für die bessere politische Regel, nicht für die angeblich oder vielleicht bessere Moralität, für das beste aller möglichen Gesetze, sondern den Blick für das, was in aller Regel die Ausnahme bleibt, für das Liegengelassene, das Unaufgehobene, das, was nicht aufgeht und darum einen Anspruch darstellt: geschichtlich an die Erinnerung, gegenwärtig an die Abweichung.« (Lehmann 2011: 38)

Fazit und Forschungsfragen

Kommen wir für ein Fazit noch einmal zurück zu unserem Beispiel, in dem das Potenzial einer Kritik und Teilhabe als ästhetische Praxis in doppelter Hinsicht angelegt ist:

Erstens zeigt es sich in der Art und Weise, wie sich die Beteiligten mit den Raumordnungen der Schule forschend und performativ auseinandersetzen. Es ist kein Vorgang, der sich vom Begrifflichen herleitet, sondern einer, der sich in ästhetischer Weise als ein Selbst/Bildungs- und Reflexionsprozess vollzieht. Die Vorgehensweise lässt sich dabei auf die Art und Weise ein, wie Kinder Räume und ihre Orte jenseits ihrer funktionalen Bestimmung wahrnehmen (vgl. Kosica 2018).4 So gesehen haben wir es mit der Unterbrechung bestehender Ordnungen des schulischen Raumes zu tun, in dem er temporär zu einem möglichen »Ausnahmeort« (Lehmann 1999: 303) wird, wie wir es vom Theater her kennen. Das kritische Potenzial von Theater als Unterbrechung erlangt noch eine besondere Note, wenn Orte ins Spiel kommen, die – wie hier der Schulraum – nicht für ein Theater vorgesehen sind (vgl. Westphal 2012: 10 f.).5

Im Projekt werden zweitens die Explorationen in einem weiteren Schritt an den eigentlichen Ausnahmeort, das Theater, überführt, der ebenfalls auf andere Weise erfahren wird, als wir es von einem klassischen Kindertheater gewohnt sind: als ein Ort der Versammlung, wo es um eine Darstellung dessen geht, was durch die Kinder selbst vor dem Hintergrund ihrer schulisch-kulturell geprägten Raumerfahrungen räumlich-gestisch hervorgebracht wurde.

Kritisch kann eine derartige ästhetische Praxis genannt werden, wenn sie »als jene temporäre Überschreitung der Normen, in der diese ausgesetzt und neu verhandelt werden«, praktiziert wird (Müller-Schöll 2018: 30). Für Nikolaus Müller-Schöll ist Theater nur dort kritisch, wo es das Theater selbst aufs Spiel setzt, indem »es sich von jedem Grund, jeder Autorität, jeder Rückversicherung in Regeln, Normen, Institutionen, Konventionen, Handwerk und Technik löst und Spieler*innen wie Zuschauer*innen dergestalt im gleichen Maß an den Rand der eigenen Sicherheiten führt wie die philosophische Kritik« (ebd.). Theater als Kritik wolle permanent erneuert werden, denn die Kritik könne ansonsten in kürzester Zeit in das umschlagen, gegen das sie sich wende. »Nichts anderes formulierte Brecht im vielzitierten Satz: ›Das Theater theatert alles ein‹.« (ebd.: 56) Per se ist demzufolge Theater nicht als Kritik zu haben! Für die Schule lässt sich umgekehrt sagen: Was in die Schule kommt, wird zu Schule. Eine ästhetische Praxis in der Schule entfaltet erst dann ihr kritisches Potenzial, wenn auch sie ihre Voraussetzungen und Bedingungen aufs Spiel zu setzen wagt.

Schließen möchte ich mit aktuell relevanten Forschungsfragen zum Forschen im Kinder- und Jugendtheater, wobei eine selbstverständliche Frage im Sinne einer Selbstbefragung für Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Theater für junges Publikum gleichermaßen sein sollte, welches Kindheitsbild und Verständnis des Generationenverhältnisses wie aber auch welches Kunst-, Partizipations- und Forschungsverständnis dem Forschen mit Kindern zu Grunde liegen:

- Wie wird das Spielpotenzial, die Perspektive von Kindern und Jugendlichen aufgegriffen und in einen partizipativ angelegten Forschungsprozess transformiert?

- Mit welchen normativen und methodischen Herausforderungen ist insbesondere die partizipative Forschung konfrontiert, wenn sie Bildung und Demokratie als Theater/Prozess untersucht? Welche Herausforderung stellt sich von daher den Erwachsenen in der Rolle als Wissenschaftler*in, als Beobachter*in, als Mitspieler*in, als Spielleitung, als Künstler*in, wenn er*sie in generativer Verantwortung, vom Anderen her denkt?

- Mit welcher Haltung begegnen Künstler*innen Kindern und Jugendlichen? Wie werden diese von den Kindern affiziert, wahr- und angenommen? Wie zeigt sich das Generationenverhältnis als ästhetische und soziale Praxis?

- Wie können Erkenntnisse aus dem Forschen im Kinder- und Jugendtheater gesichert und validiert werden? Und wie können diese in Formen, Inhalte und Organisationsweisen des Theaters wiederum eingehen?

- Kann Kunst überhaupt demokratisch sein, unterliegt sie nicht ihren eigenen Gesetzlichkeiten? Wie ist es mit der Eigensinnigkeit von Kindern und Jugendlichen in diesem Zusammenhang bestellt? Wie kann ob dieser Paradoxie gleichwohl das demokratisierende Moment Kunst bewegen und umgekehrt die Kunst das Demokratische?

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1 »KUNST_RHEIN_MAIN«, ein Verbundvorhaben zwischen der Universität Koblenz, dem Künstlerhaus Mousonturm: Tanzplattform und in Kooperation mit FLUX – Theater unterwegs (2015–2018), gefördert vom BMBF und wissenschaftlich begleitet durch die Universität Koblenz. »Generation K: Kultur trifft Schule« (2017–2019), Projektträger MMWK Rheinland-Pfalz im Rahmen eines Programms der Mercatorstiftung Kreativpotentiale, wissenschaftlich begleitet durch die Universität Koblenz. »Der Dritte Ort? Künstlerische Residenzen in ländlichen Räumen« (2019–2023), wissenschaftliche Begleitung durch die Universität Koblenz gefördert vom BMBF.

2 Der Beitrag ist eine überarbeitete Fassung, die unter Ute Pinkert et al. 2021 erschienen ist.

3 Vgl. https://vimeo.com/16509265 (letzter Zugriff am 28.06.2019). »Kinder testen Schule« ist nach dem »Club der Autonomen Astronauten« und »Schuluhr und Zeitmaschine« der dritte Teil der Projekt-Trilogie des Forschungstheaters. Mitwirkende: Matthias Anton, Florian Feigl, Dorothee de Place, Jens-Jacob de Place, Hannah Kowalski, Sibylle Peters, Broder Zimmermann.

4 Die umfangreiche Studie von Simone Kosica Im Dazwischen bewegen. Ein phänomenologischer Zugang zur Schulraumforschung (2020) widmet sich ausführlich auch unter method(olog)ischen Gesichtspunkten dem Raumerleben von Kindern in schulischen Räumen.

5 Vgl. auch Projekte, die sich wie bei Elise v. Bernstorff mit Kindern der Rechtsprechung und Gericht (Das jüngste Gericht – eine außergerichtliche Verhandlung. 2014) auseinandersetzt, oder solchen Projekten, die sich den Überwachungen von öffentlichen Räumen zuwenden wie von Sterzenbach/Kranixfeld/Waburg 2022 im Rahmen unserer Forschung Künstlerischer Residenzen in ländlichen Räumen beobachtet. Vgl. auch weitere Projekte insbesondere in ländlichen Räumen bei Krüger/Waburg/Westphal/Kranixfeld/Sterzenbach 2023 i.V.

Literatur

Babias, Marius (2011): Die Kernfrage lautet, ob Kunst tendenziell ein Medium der Kritik ist. In: Kunstforum International 212, S. 108–113.

Bilstein, Johannes/Kneip, Winfried (Hgg.) (2020): Curriculum des Unwägbaren III. Kinder.Kunst.Lernen. Bielefeld.

Forschungstheater Fundustheater (2016): Kinder testen Schule: https://vimeo.com/16509265 (letzter Zugriff: 28.06.2019).

Forschungstheater Fundustheater (2016): Schuluhr und Zeitmaschine: https://vimeo.com/16742247 (letzter Zugriff am 28.06.2019).

Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.) (2013): Was ist Kritik? Frankfurt am Main.

Kosica, Simone (2018): Bewegungen im Schulraum. Sich von Schüler*innen (ent-)führen lassen. In: Birgit Engel/dies. et al. (Hg.): räumen. Raumwissen in Natur, Kunst, Bildung und Architektur. Weinheim. Basel, S. 214–231.

Kosica, Simone (2020): Im Dazwischen bewegen. Ein phänomenologischer Zugang zur Schulraumforschung. Weinheim. Basel.

Krüger, Jens O./Waburg, Wiebke/Westphal, Kristin/Kranixfeld, Michael/Sterzenbach, Barbara (Hg.) (2023 i.V.): Landschaft – Performance – Teilhabe. Ländliche Räume in kultureller Bildung und künstlerischer Praxis. Bielefeld.

Lehmann, Hans-Thies (1999): Das Postdramatische Theater. Frankfurt am Main.

Lehmann, Hans-Thies (2011): Wie politisch ist das postdramatische Theater? In: Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld, S. 29–40.

Lehmann, Hans-Thies (2013): Tragödie und Dramatisches Theater. Berlin.

Lohfeld, Wiebke unter Mitarbeit von Simone Kosica (Hg.) (2019): Spannung. Raum. Bildung. Reflexionen in anthropologischer und phänomenologischer Perspektive. Weinheim. Basel.

Mühleis, Volkmar (2016): Der Kunstlehrer Jacotot. Jacques Rancière und die Kunstpraxis. München.

Müller-Schöll, Nikolaus (2018): Die Fiktion der Kritik. Foucault, Butler und das Theater der Ent-Unterwerfung. In: Ebert, Olivia et al. (Hg.): Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung. Bielefeld, S. 49–58.

Nancy, Jean-Luc (2015): Unser Zeitalter ist nicht mehr das Zeitalter der Kritik. Critique, Crise, Cri. Unveröffentlichtes Manuskript übersetzt von Esther von den Osten.

Peters, Sibylle (2018): Performing Research. Szenische Forschungsprojekte mit Schulkindern. In: Westphal, Kristin et al. (Hg.): Zwischen Kunst und Bildung. Theorie. Vermittlung. Forschung im zeitgenössischen Theater, Tanz und Performance. Oberhausen, S. 145–168.

Primavesi, Patrick (2011): Theater/Politik – Kontexte und Beziehungen. In: Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld, S. 41–72.

Rancière, Jacques (2007): Das Unbehagen der Ästhetik. Übers. von Richard Steurer, Wien.

Sterzenbach, Barbara/Kranixfeld, Micha/Waburg, Wiebke (2022): Choreografien vor den Überwachungskameras der Kleinstadt. Selbstaufnahmen und digitale Assemblagen in SELFIES2 von Kılınçel&Schaper als Befragung von Machtfigurationen in ländlichen Räumen. In: Jahrbuch Medienpädagogik 18. Zürich, S. 307–330. Online verfügbar unter: https://www.medienpaed.com/article/view/1299 (23.11.2022).

Waldenfels, Bernhard (1994): In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt am Main.

Westphal, Kristin (Hg.) (2012): Räume der Unterbrechung. Theater. Performance. Pädagogik. Oberhausen.

Westphal, Kristin (2015): Theater als Ort der Selbstermächtigung. Am Beispiel der Gruppe Gob Squad. Before your very Eyes. In: Liebert, Wolf-Andreas/dies. (Hg.): Performances der Selbstermächtigung. Oberhausen, S. 163–184.

Westphal, Kristin (2018): ZWISCHEN KUNST UND BILDUNG: Die Kunst, in Bildungskontexten künstlerisch tätig zu sein. In: dies. et al. (Hg.): Zwischen Kunst und Bildung. Theorie. Vermittlung. Forschung im zeitgenössischen Theater, Tanz und Performance. Oberhausen, S. 15–28.

Westphal, Kristin (2021): Theater und Schule. Orte der Krise und Kritik, in: Pinkert, Ute et al. (Hg.): Perspektiven und Positionen in der Theaterpädagogik. Berlin et al., S. 316–326.

Westphal, Kristin/Althans, Birgit/Dreyer, Matthias/Hinz, Melanie (Hg.) (2022): KIDS ON STAGE. Andere Spielweisen in der Performancekunst. transgenerational. transkulturell. transdisziplinär. Bielefeld.

Zimmermann, Mayte et al. (Hg.) (2020): Theater als Raum bildender Prozesse. Oberhausen.

Zirfas, Jörg (Hg.) (2015): Arenen der Ästhetischen Bildung. Zeiten und Räume kultureller Kämpfe. Bielefeld.