Partizipatives Forschen im Kinder- und Jugendtheater

Von Maike Gunsilius

(eine kürzere Version des Textes wurde veröffentlicht unter: Partizipatives Forschen im Theater als künstlerische Intervention im Kontext Kultureller Bildung. In: Mandel, Birgit (Hg.) (2022): Künstlerische Interventionen in der Kulturellen Bildung. Inhalte, Methoden und Reflexionen eines Curriculums für Künstler:innen. Universitätsverlag Hildesheim, S. 215–222.)

Seit Anfang der 2000er-Jahre werden im Kinder- und Jugendtheater forschende Ansätze entwickelt, unterschiedliche Ansätze, in denen die Mittel und Formate des Theaters dafür eingesetzt werden, ein forschendes Setting zu entwickeln, ein Setting, in dem Fragen untersucht werden können, die über rein künstlerische Fragestellungen hinausgehen. Settings, in denen viele unterschiedliche Perspektiven und Expertisen beteiligt sind und in denen in unterschiedlicher Weise zutage treten oder hervorgebracht werden kann.

Reflektiert und untersucht wurden diese Ansätze bislang angebunden an die Diskurse zu Künstlerischer Forschung. Aus dem breiten Feld dessen, was mit Künstlerischer Forschung beschrieben wird, unterscheidet Henk Borgdorff (nach Frayling) zwischen 1. Forschung über Kunst: Kunst ist hier der Untersuchungsgegenstand („interpretative Perspektive“); 2. Forschung für Kunst: Hier ist die künstlerische Praxis nicht Untersuchungsgegenstand, sondern sie nutzt andere Formen der Forschung für die künstlerische Praxis, z.B. als Werkzeug oder Materialkenntnis für künstlerische Produktion als Ziel („instrumentelle Perspektive“), 3. Forschung in der Kunst: Künstlerische Praxis ist ein zentraler Bestandteil sowohl des Forschungsprozesses als auch der Forschungsergebnisse („reflexive Perspektive“) (Borgdorff 2009). Dass Kunst sucht, untersucht und experimentiert, ist nicht neu. Die Begriffe Experiment, Labor, Versuch, Erprobung sind schon lange Teil künstlerischer Praktiken. Doch was macht künstlerische Forschung als eigenständige Praxis aus?

In einem Thesenpapier, im Rahmen der Tagung Forschung in Kunst und Wissenschaft. Herausforderungen an Diskurse und Systeme des Wissens 2012 verfasst, werden folgende Merkmale benannt: Künstlerische Forschung nutze viele unterschiedliche Forschungsweisen, sie stelle unterschiedliche Formen und Arten von Wissen nebeneinander, sie sei oft transdisziplinär und immer im Austausch mit unterschiedlichen Öffentlichkeiten und operiere durch Gestaltungsprozesse.

Naturgemäß wird der (in Deutschland vergleichsweise) junge Ansatz von unterschiedlichen Seiten kritisiert: Aus der Kunst wird beispielsweise eine Verwissenschaftlichung der Kunst befürchtet, seitens der Wissenschaft werden oftmals eine fehlende Objektivität und eine zu starke Involviertheit angemahnt – ein Vorwurf, den Sozialwissenschaften und die Ethnografie schon lange kennen und ungefähr ebenso lange affirmativ und durch die Reflexion der eigenen Impulse ins Feld, entkräften. Seitens unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteur*innen wird Künstlerischer Forschung vorgeworfen, dass sie als prozess-, statt ergebnisorientierte Praxis die Öffentlichkeit aus dem Blick verliere und entsprechend selbstbezüglich und exklusiv sei.

Dass dies nicht so sein muss, beweisen partizipative Ansätze des Forschens im oder mit Theater mit sogenannten Expert*innen des Alltags, für die ein wichtiger theoretischer Bezugspunkt Sibylle Peters‘ Band „Das Forschen aller“ ist. Auf dieser Basis wurden in Hamburg von 2012-2017 die beiden Graduiertenkollegs Versammlung und Teilhabe und Performing Citizenship durchgeführt, in deren Rahmen zahlreiche unterschiedliche partizipative künstlerische Forschungsprojekte entstanden sind. Versammelt und untersucht wurden sie im anschließenden Forschungsprojekt Participatory Art-based Research, auf deren Ergebnisse ich später zurückkomme. Zunächst möchte ich den Kontext des Kinder- und Jugendtheaters als Raum intergenerationaler Forschung beleuchten, der mit seinen bereits vorgestellten Praxisansätzen die Diskurse der künstlerischen Forschung, der Partizipation und der kulturellen Bildung zu verbinden vermag.

Das Kinder- und Jugendtheater versteht sich zunehmend als ein experimentelles Forum für die Interessen, Stimmen, Erfahrungen und Expertisen von Kindern und Jugendlichen. Sie werden nicht mehr als „becomings“, als defizitär konstruierte Wesen konzipiert, die sich u.a. mithilfe künstlerischer Erfahrungen erst zu „starken Subjekten“ (Fuchs 2016) entwickeln sollen, sondern als „being“ (vgl. Uprichard 2008), als Expert*innen ihrer Lebenswelt (Wartemann 2015), die verstärkt als Partner*innen sowohl in gesellschaftliche als auch in künstlerische Prozesse einzubeziehen sind (vgl. ASSITEJ 2020). Partizipation ist sowohl in Gesellschaft insgesamt, in (kulturellen) Bildungskontexten und im Theater ein inflationär gebrauchter und ebenso schwammiger Begriff sowie ein Paradigma geworden. Im Kontext des Kinder- und Jugendtheaters beschreibt er ganz unterschiedliche Dimensionen und Modi: Einerseits geht es um Zugänge von Kindern und Jugendlichen zu den Angeboten und künstlerischen Erfahrungen von Kunst und Kultur, in diesem Falle von Theater, um ihre kulturelle Teilhabe (1). Zum zweiten geht es in Theaterformen für Kinder und Jugendliche als Publikum um aktive Formen der Interaktion (2) im Spiel zwischen Bühne und Zuschauer*innenraum. Weiterhin werden Zusammenarbeitsformen (3) von Kindern und Erwachsenen in künstlerischen Prozessen als partizipativ beschrieben und darüber hinaus konkrete programmatische oder kuratorische Entscheidungen (4), die erwachsene Theatermacher*innen mit Kindern und Jugendlichen teilen oder an sie abgeben (vgl. Gunsilis 2023/i.E.). Diese sehr unterschiedlichen Modi der Partizipation werden kritisch daraufhin überprüft, ob sie Kinder bzw. Jugendliche zu scheinpartizipativen Prozessen einladen oder inwiefern Partizipation im künstlerischen Rahmen zwangsläufig „Trostpflaster“ (Seitz 2015/13) für mangelnde gesellschaftliche Partizipation bleiben muss oder gar einen gouvernementalen gesellschaftlichen Partizipationsimperativ (Kup 2019) reproduziere. Seit Anfang der 2000er Jahre entwickeln Theater- und Performancemacher*innen unterschiedliche Ansätze des intergenerationellen Forschens in Theatern, in Bildungseinrichtungen sowie in (öffentlichen) sozialen Räumen. Sie entwerfen experimentelle Settings, in denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene gemeinsam mit den Mitteln des Theaters ihre Wünsche und Anliegen und daran gebundene gesellschaftliche Fragen untersuchen (vgl. Hinz et. al 2018; Peters 2018; Gunsilius/Kowalski 2021).

Wegweisend ist hier der Ansatz des Forschungstheaters, einer Programmschiene im FUNDUS THEATER in Hamburg, das seit 2003 szenische Forschung mit Kindern, insbesondere im Grundschulalter praktiziert (Peters 2013, 2018): In inter- oder transgenerationalen szenischen Forschungsprojekten agiert der Ansatz erfolgreich auf der Schnittstelle zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Dieser Ansatz geht von Wünschen und Anliegen von Kindern aus und bringt sie mit diskursiven gesellschaftlichen Fragen von Erwachsenen zusammen und mit geeigneten Verfahren und Formaten des Theaters, mit denen diese Fragen gestellt und untersucht, und so die Wünsch erfüllt werden sollen. Bestenfalls entwickelt sich aus dem Wunsch und der Frage mit den Mitteln des Theaters ein Vorhaben, das es umzusetzen gilt. Wie z.B. im Forschungsprojekt Kaputt in dem unterschiedliche Expert*innen zu Zerstörung als kreativem destruktivem Akt geforscht haben: Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Kinder und zwar insbesondere Kinder, die sich in ihren Bildungseinrichtungen als Expert*innen für Zerstörung erwiesen hatten.

Andere Ansätze wie das TUKI-Forschertheater (seit 2011) oder die Winterakademie (Theater an der Parkaue, 2005/6-2015/16) basieren auf dem Konzept der „ästhetischen Forschung“ von Helga Kämpf-Jansen (2004) (vgl. Marsch 2014; Boos et. al 2018; Lobert 2020) und zielen vor allem auf eine ästhetische Erkundung von Welt im Labor des Theaters. Das TUKI-Forschertheater beispielsweise forscht mit Kita-Kindern. Im Fokus stehen hier alltägliche, aus naturwissenschaftlicher Perspektive deutbare Phänomene, wie Wolken, Dunkelheit etc. Entlang der Interessen der Kinder sollen sie mit ästhetischen Mitteln gesucht und untersucht werden:

„Sechs Theater bilden mit sechs Kitas künstlerische Forschungsgemeinschaften, in denen Kinder zwischen vier und sechs Jahren, Künstler*innen und Erzieher*innen miteinander auf Forschungsreise gehen. „Wo sind die Geräusche, wenn wir sie nicht hören?“, „Wie leuchtet die Dunkelheit?“ oder „Spurenleser*innen – Was erzählen uns Spuren?“. Je nach Forschungsfrage begibt sich die Forschungsgemeinschaft auf Exkursionen und lädt Expert*innen ein, um ihr Erfahrungsspektrum zu erweitern und neue Fragen anzuregen. In den kreativen Laboren entsteht am Ende der Forschungsreise eine interaktive Performance.“ (https://tuki-berlin.de).

Im Rahmen dieser Forschungsreisen geht es um eine gezielte und vertiefte, eine leibbezogene und sinnliche Erkundung, in der sich gesichertes Wissen und phantastische Zugänge verbinden können. Methodisch folgen sie fünf Stationen: „beobachten und suchen“, „erkunden und entdecken“, „erforschen und sammeln“, „sortieren und probieren“ sowie „präsentieren und weiterforschen“ (ebenda). Im Laufe der Jahre hat TUKI unterschiedliche Prozesse und Formate entwickelt (vgl. ebenda).

Andere theatrale Forscher*innen, wie beispielsweise das Kollektiv Frl. Wunder AG entwickeln spezifische Formen der künstlerischen Feldforschung – u. a. auch mit Kindern und Jugendlichen (Pfeiffer 2018; Hinz 2018). Beispielsweise hat Malte Pfeiffer zu unterschiedlichen ethnographischen Forschungsmethoden wie Interviews führen, Beobachtungen festhalten, Geräusche oder Objekte sammeln, Situationen zeichnen oder beschreiben, etc. mithilfe von performativen Handlungsanweisungen, Forschungsaufträge für unterschiedliche Situationen und Vorhaben entwickelt und beschäftigt sich darüber hinaus mit der Frage, wie nächste Schritte und Möglichkeiten zum forschenden Umgang mit diesem Material, auch hinsichtlich einer Präsentationssituation aussehen und als forschende Verfahren vermittelt werden können.

In Abgrenzung zu recherchebasierten Theaterformen, die dokumentarisches Material im Hinblick auf eine inhaltlich und künstlerisch stimmige oder innovative Aufführung bearbeiten (vgl. Hinz 2018), kreieren die genannten unterschiedlichen Ansätze experimentelle Settings und Prozesse mit den Mitteln und Formaten des Theaters. Wissenschaftlich werden sie als „Forschendes Theater in Sozialen Feldern“ (Hinz et. al 2018) untersucht. Die bisherige theoretische Forschung in diesem Feld ist (noch) in legitimatorische Debatten verstrickt und fokussiert die Beweisführung, dass Theater Forschung sein kann, dass diese Forschung über kunstimmanente Fragestellungen hinausgehen und dass und wie sie Kinder, Jugendliche und Erwachsene an der transdisziplinären Untersuchung gesellschaftlicher Fragestellungen beteiligen kann. Im Fokus stehen hier bislang die produktionsästhetische Untersuchung von experimentellen Settings in theatralen und theaterpädagogischen Rahmungen (vgl. Hinz et. al 2018, Peters et. al 2020), ihrer bildenden Potenziale (Pinkert 2018; Hruschka 2018; Westphal 2018), sowie ihrer Möglichkeiten für die Partizipation von Kindern und Jugendlichen an gesellschaftlichen Fragen und Prozessen (Peters 2013; 2018; Gunsilius und Kowalski 2021).

Ich möchte im Folgenden den Ansatz des partizipativen künstlerischen Forschens (Participatory Art-based ResearchPABR) in den Fokus setzen, der Forschen als transdisziplinäre, partizipative Praxis im Dreieck zwischen Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft denkt und praktiziert (Peters et. al 2020). Methodisch basiert er auf dem Ansatz des Forschungstheaters und zielt auf eine Demokratisierung von Forschung und Kunst. Grundlage dafür ist ein Verständnis von Forschung, das mit dem Soziologen Bruno Latour davon ausgeht, Wissen über Gesellschaft könne am besten mit statt im Abstand zu ihr generiert werden (vgl. Latour 1998; Peters 2013: 11-13). Aktionsforschung (Action Research) (Lewin 2009/1946) und andere partizipative Ansätze (vgl. Unger 2014) fordern schon lange die Beteiligung unterschiedlicher Alltagsexpertisen, u.a. von Kindern und Jugendlichen an Forschungsprozessen (vgl. Liebel 2020, Wöhrer 2017). Aus der Überzeugung, dass insbesondere die performativen Künste eine große Expertise in der Organisation partizipativer Prozesse haben und darüber hinaus in der Lage sind, neben rationalen auch andere, implizite Formen von Wissen (Polanyi 1985) zu zeigen und hervorzubringen, werden mithilfe ihrer Formate, Verfahren und Prozesse experimentelle Settings eingerichtet, in denen unterschiedliche Bürger*innen mit ihren unterschiedlichen Expertisen in (intergenerationellen) Konstellationen gemeinsam forschen können.

Partizipatives künstlerisches Forschen (Participatory Art-based Research/PABR) beginnt mit der Einrichtung eines Forschungs-Setups, das sich – methodisch ausgehend vom Ansatz des Forschungstheaters in einem Dreieck abbilden lässt: Ein Wunsch oder Anliegen der mitforschenden Kinder (Gesellschaft), eine diskursive Frage der mitforschenden Erwachsenen (Wissenschaft), sowie ein künstlerisches Mittel bzw. Verfahren (Kunst) bilden die drei Punkte des Dreiecks, in dem sich das Forschungssetting entfaltet. Wünsche bilden hier den Ausgangspunkt für gemeinsames Forschen, weshalb Theatermacher*innen, bevor sie ein künstlerisches Forschungsprojekt für einen bestimmten sozialen Kontext entwerfen können, dessen Herausforderungen und ihre potenziell Mitforschenden kennenlernen – und dafür im Prozess entsprechend Zeit einplanen müssen.

Im Rahmen des Forschungsprojektes Participatory Art-based Research (2019-2020) wurden neun unterschiedliche künstlerische Formate herausgearbeitet, die sich im Kontext des Ansatzes als produktiv für partizipatives Forschen in den performativen Künsten erwiesen haben, z.T. auch kombiniert miteinander (Peters et. al 2020). So wird beispielsweise mit einer „Intervention ins Reale“ (Intervention into the Real) (Matthias/Wildner 2020) mit einer künstlerischen Aktion ein Impuls in ein soziales Feld gegeben (und damit möglicherweise gar ein praktischer Lösungsvorschlag erprobt) – beispielsweise, wenn Kinder im Projekt Die Kinderbank (2012) ihr eigenes Geld entwerfen und in ihrer Nachbarschaft in Umlauf bringen und so gemeinsam mit anderen (erwachsenen) Expert*innen zu alternativen Währungen forschen.

Ein weiteres zentrales Format ist das Forschen in einer „(unwahrscheinlichen) Versammlung“ (Improbable Assembly) (Gunsilius/Peters (2020): Eine unwahrscheinliche Konstellation von Menschen wird in alternativen (Macht-)Verhältnissen versammelt, um gemeinsam eine oder mehrere Fragen zu untersuchen. Ein Beispiel wäre das Projekt Unterscheidet Euch! (2019) des Kollektivs Turbo Pascal, in dem soziologische Forschungsergebnisse zu Kinderarmut durch Befragungen von Berliner Schulkindern erweitert und so in ein interaktives Forschungssetting eingeschrieben werden. Mit diesem untersuchen Performer*innen und Schüler*innen im Theater gemeinsam Fragen von (Kinder)armut, sozialer Ungleichheit und Bildungsungerechtigkeit.

Ein drittes Format ist die „Institution auf Probe“ (Try-out Institution) (Gunsilius/Peters 2020). Hier wird eine zukünftige bzw. alternative Institution gegründet, z.B. ein Institut, eine Akademie etc. Im Namen dieser Institution werden Dienstleistungen und Handlungen vollzogen, die sowohl bestehende Institutionen, Körperschaften und deren Repräsentationen befragend untersuchen und zugleich alternative Repräsentationen erproben können. So beispielsweise mit dem Forschungsprojekt KAPUTT ­– Die Akademie der Zerstörung (FUNDUS THEATER/Forschungstheater 2018), in dem Kinder und Erwachsene gemeinsam Akte von kreativer Zerstörung praktizieren und untersuchen: So lädt beispielsweise der Künstler Matthias Anton dazu ein, das Auto seiner Träume mit ihm zu bauen – um es danach zu zerstören. Die Künstlerin Eva-Meyer-Keller seziert gemeinsam mit Kindern Früchte, während Sammy Pompomps aus geschredderten Mathebüchern baut, Abraham Wetten entgegennimmt, ob Handy oder Mixer länger halten und Devran und Jolina eine Playstation kaufen, um sie zu zerstören. Im Format der „One-on-One-Begegnung“ (One-on-One Encounter) (Gunsilius/Wildner 2020) kann eine intime Situation geschaffen werden, in der ungesichertes Wissen geteilt oder hervorgebracht werden kann während oder weil etablierte Begegnungsverhältnisse von Kindern und Erwachsenen unterlaufen werden. So untersuchen beispielsweise im Forschungsprojekt Die Schule der Mädchen II (Maike Gunsilius 2017) Mädchen und Frauen als intergenerationelle 1:1-Teams, wie sie (gemeinsam) als Bürger*innen ihrer postmigrantischen Stadtgesellschaft handeln können und wollen und teilen ihre Ergebnisse am Abend desselben Tages in der Öffentlichkeit des Theaters.

Das Theater entlehnt schon lange Begriffe aus dem Kontext der Wissenschaft wie Labor, Untersuchung, Test etc. und nutzt sie entweder in einem metaphorischen Sinne eines ‚wie Forschung‘ (vgl. Pinkert 2018), um seine Rechercheorientierung, seine diskursive Verortung oder seine Prozessoffenheit zu betonen oder indem es seine Verfahren und Formate einsetzt, um experimentelle Anordnungen zu kreieren, forschende Prozesse zu initiieren und zu rahmen. Für eine Abgrenzung wird neben dem Selbstverständnis der künstlerisch Forschenden auch das Verhältnis von Prozess und Präsentation entscheidend. Damit ein forschender Prozess nicht kurz vor seinem Veröffentlichungsmoment in eine Aufführungslogik kippt, bleibt folgender Hinweis wichtig: Es geht hier nicht (nur) um die (abschließende) Präsentation von Forschungsergebnissen, sondern darum, (Zwischen-)ergebnisse des Forschungsprozesses zu teilen und in der ko-präsentischen Situation zu testen, zu überprüfen und weiter zu untersuchen. Die Präsentation ist selbst Teil des Forschungsprozesses. Insbesondere, wenn es darum geht, implizite, z.B. körperbasierte, und explizite, z.B. begriffliche Formen des Wissens in Austausch zu bringen, kann die künstlerisch eingerichtete Präsentationssituation Rahmen und Form dafür sein und sollte deshalb (regelmäßig) als immanenter Teil des Forschungsprozesses mitgedacht werden.

Forschende Verfahren in Theater und Kultureller Bildung wurden bislang im Hinblick auf ihre subjekt-bildende Wirkung als erfolgreich wahrgenommen. Im Diskurs der Kulturellen Bildung wird ein transformatorisches Bildungsverständnis, das das zentrale Moment von Bildung in der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen des Subjekts (vgl. Koller 2012) verortet, an den Begriff der ästhetischen Erfahrung, im theaterpädagogischen Diskurs zusätzlich an den Begriff der Differenzerfahrung (vgl. Hentschel 1996), angebunden. Damit verorten die Diskurse sowohl des Theaters für junges Publikum als auch der Theaterpädagogik ihre transformatorischen Potenziale bislang vor allem in Subjektivierungsprozessen. In einem transformativen Verständnis von Bildung werden Bildungsprozesse fokussiert, die kulturelle und soziale Strukturen, Institutionen, Praktiken und Verhältnisse reflektieren – und dabei auch die eigene Involviertheit in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse befragen (vgl. Peukert 2000; Lingenfelder 2020).

Bislang nicht untersucht wurde partizipatives Forschen im Kinder- und Jugendtheater als spezifische Transformationsforschung bezüglich gesellschaftlicher Umbrüche (wie Klimafragen, anthropozentrischer Fragen, Gender- und Diversitätsgerechtigkeit, Generationenverhältnisse etc.). Angesichts intergenerationeller Konfliktlinien, die sich an diesen Fragen entzünden, kann es nicht (mehr) nur darum gehen, ob und inwiefern Kinder und Jugendliche als Zielgruppe von den Angeboten und Erfahrungen kultureller Bildung profitieren, sondern darum, wie Anliegen und Expertisen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen zusammengebracht werden können, um gemeinsam Prozesse gesellschaftlicher Transformation zu untersuchen. Damit werden auch traditionelle Konzeptionen Kultureller Bildung infrage gestellt. Zukünftig gilt es daher zu untersuchen, ob und inwiefern eine handlungsorientierte, partizipativ und inklusiv angelegte, kritische Praxis des Forschens im Theater (vgl. Peters 2013; Gunsilius 2019; Gunsilius/Kowalski 2021) einen Beitrag zu gesellschaftlichen Transformationsfragen leisten kann. Und: inwiefern dies zugleich das Verhältnis zwischen Forschung und (Kultureller) Bildung neu bestimmt. Wenn Theatermacher*innen in den Institutionen und Kontexten Kultureller Bildung partizipativ forschen wollen, benötigen sie andere zeitliche Abläufe, personelle Konstellationen und möglicherweise neue Partner*innen (und ggf. Finanzierungsmodelle). Ihrer Arbeit muss ein offenes und kritisches Vermittlungs- und Bildungsverständnis, sowie ein transdisziplinäres Theater- und Forschungsverständnis zugrunde liegen. Sie müssen bereit sein, die eigene künstlerische Expertise als eine neben anderen Expertisen zu sehen und als solche für den Bau eines experimentellen Settings einzubringen, das einen partizipativen, transdisziplinären Prozess des Forschens zu kreieren und zu rahmen vermag. Einen Prozess, der fachliches, alltägliches und ungesichertes Wissen versammelt, in Dialog bringt, ganzheitlich wahrnehmbar macht und hervorbringt. Aktuelle gesellschaftliche Transformationsprozesse sind drängend und umfassend. Ihre lösungsorientierte Untersuchung fällt mit ihrer gesellschaftlichen Vermittlung und Bewältigung zusammen. Das Theater als ein handlungsorientierter, ästhetischer, ganzheitlicher Erfahrungsraum kann Forum und Form für diese Forschung sein.

Literatur

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